“Ein neuer Mensch werden” – Subjektivistische Gedankenfragmente über die Regungen der Seele in der Krise


_PROLOG_
Im letzten Jahr war es soweit: Mein verbissener Ehrgeiz kollidierte mit der Grenze meiner seelischen Kapazität. Meine mangelnde Bereitschaft, auch mal nicht alles zu geben, prallte auf meine umtriebig-hohe Sensitivität. – Ein seelischer Crash, angekündigt und begleitet von psycho-vegetativen Symptomen jeder denkbaren Art. Das gesamte stabilisierende Gerüst meiner Seele brach zusammen. Das Wort meines Hausarztes «Einmal ist dann halt auch mal zu viel Herr Deutscher!», hallte wie ein Echo durch die folgende Zeit. Jede Freude entschwand in ferne, unerreichbare Auen, die Angst durchwehte alle Regungen der Seele. Jedes Symptom wurde zum Anzeichen des endgültigen Endes, jeder Moment der Kraftlosigkeit zur Gewissheit, dass meine Zeit nun unwiederbringlich vorbei sei. Über mich senkte sich das Tal der Todesschatten aus Psalm 23. Jeder neue Tag wurde zur Durchhalteübung, Prisen der Geborgenheit ergaben sich nur in den Armen meiner behinderten Tochter und in den Wärmewellen des Badewannenwassers.

_EIN NEUER MENSCH_
Die Frage, wie ich und andere in und durch ihre Krisen zu neuen Menschen werden können, beschäftigte mich als Christ und Theologe existentiell. Unsere Seele ist auf «Konservierung» ausgerichtet und bietet gegen Veränderungsnotwendigkeiten in Krisenmomenten ihr ganzes Arsenal auf. So träumte ich während meinen dunklen Wochen häufig von der Bibliothek, in der ich als Kind lesend den Tag verstreichen liess. Das Knarzen des alten Holzbodens, der liebliche Geruch des staubigen Treppenhauses brach wie eine Flutwelle hinein in die Sinne meines Unterbewusstseins und erzeugte den Zauber einer mächtigen Sehnsucht. Es schien, als wolle sich die Seele zurückziehen auf «sicheren Boden», in eine Zeit, in welcher der Sturmwind der Verantwortung mir noch nicht entgegenbliess. Meine Seele bot es mir an, dass süsse Gift der Nostalgie, das dort Glück verspricht, wo keines mehr zu finden ist. – Ich war heute dort, in jener wundersamen Bibliothek und musste das farbige Trugbild überwinden.
Eine andere Reaktion der Seele auf Krisen ist diejenige, die mit demselben Programm weiterfährt sobald sich eine kleine Genesung einstellt. Wer so vorgeht, dreht Extrarunden, wie ich es tat.
Ein Neuer werden und doch sich selbst bleiben, ja, sich selbst sogar finden, das ist die Forderung der Krise, an deren Fels viele Gestrandete zerschellen. Die Kapazität, sich selbst in der Krise zu verlieren und dadurch zum eigentlichen Leben zu gelangen, liegt jenseits der individuell-seelischen Potenz. Der Boden dafür liefern jener Schrei des Gekreuzigten: “Es ist vollbracht.”, ein Schrei der den Raum der göttlichen Gnade ausbreiten soll, hinein bis in die tiefsten Seelenstrukturen menschlicher Existenz.

_JAKOB_
Wie ein Archetypus begleitete mich Jakob, der in seiner Existenzangst mit Gott kämpfte bis zum Morgengrauen, um ein neuer Mensch zu werden, ein Krüppel, mit dem Namen «Israel». Die Kraft der Neuwerdung entsprang seinem verzweifelten und schmerzverzehrten Morgenruf: «Ich lasse Dich nicht los, es sei denn, du segnest mich!». Ein Gebet für die Zerschlagenen aller Tage, ein Ruf für den Pilger in äusserster Finsternis. Es bleibt dabei: Israel ist derjenige mit der zerschlagenen Hüfte, derjenige, der in der Krise, ringend mit Gott, ein neuer Mensch geworden ist, der Träger der Verheissung.

_CHRISTUS_
Auch Christus ist ein Neuer geworden, durch das Widerfahrnis der Schande, der Verlassenheit und der Angst. Er ist an uns zerschellt, auf dass wir Auferstandene werden, wie er es ist. Wir frohlocken über das Wort Jesu im Garten: «Meine Seele ist betrübt bis zum Tode» und wir jubeln über das Wort des Auferstandenen «Fürchtet euch nicht» und «Friede mit euch». Da sagt es einer, der weiss, wovon er spricht. Und so sprechen wir in unseren Dunkelheiten: «Ich lasse dich nicht los Christus, es sei denn, du segnest mich, auf dass ich werde wie du, ein Auferstandener mit Wundmalen des alten Lebens.»

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