“18 Mädchen sterben bei Brand in christlicher Schule”
Bei solchen Schlagzeilen – man ersetze diese mit anderen beliebigen Schreckensnachrichten – taucht sie mit beharrlicher Hartnäckigkeit auf, die Theodizee-Frage (Gott und Leid). Ist diese Frage eine theologische Anmassung, wie Karl Barth sie nennt? Ist sie der Fels des Atheismus? Vor jedem theoretischen Versuch der Klärung des Problems, welcher ohnehin im akuten Moment des Kummers nur scheitern kann, ist da zunächst einmal die existentielle Erschütterung, der Strudel starren Elends, in den man als Betroffener hineingerät. Ich stelle mir vor, dass meine beiden Söhne und meine Tochter, die ich verzweifelt liebe, friedlich schlafend vom Feuer überrascht werden und in den Flammen nach Hilfe schreiend zu Grunde gehen. Der schiere Gedanke daran ruft Verdrängungsmechanismen auf den Plan, aber darf man einfach verdrängen und diese Möglichkeiten nicht in seine Wahrnehmung aufnehmen bis man selbst betroffen ist? Ist derjenige nicht ein schlechter, ahnungsloser Seelsorger, der sich die schlimmst möglichen Widerfahrnisse mit frivoler Leichtigkeit von der Seele hält?
Es gibt angesichts des unfassbaren Schreckens keine intellektuell zufriedenstellende Lösung dieses Problems. Selbstverständlich kann man Leid, welches durch Menschen verursacht ist, theologisch als Missbrauch der gottverliehenen Freiheit bezeichnen, zeigen wie ernsthaft diese Freiheit ist und die Theodizee-Frage somit aus dem Fokus rücken. Eine Mehrheit des Leids ist tatsächlich vom Menschen verursacht und wurzelt in seiner Gier, Selbstsucht und seinem ungebrochenen Machttrieb. Wie man also feststellen darf, ist dieses Ansinnen sogar berechtigt und hilfreich, allerdings tröstet es keine zerbrochenen Herzen. Die Frage, die mich als Theologe und Christ existentiell umhertreibt, ist diejenige: Wie stellt sich Gott zu diesem Elend? Kann der über alles Erhabene, der selbstgenügsam ausserhalb von Raum und Zeit thront, traurig sein über die Verzweiflung dieser Eltern, die gebrandmarkt sind durch dieses Elend? Inwiefern steht er in einem kausalen Verhältnis zu solchen Katastrophen (und vor allem zu denjenigen, welche nicht unter die Kategorie der direkten menschlichen Verursachung fallen). Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass ich seine Allmacht für eine theologische Notwendigkeit halte, ebenso bin ich der Überzeugung, dass Gott, ganz im Gegensatz zu jedem Geschöpf, das Recht hat Leben zu beenden, wann immer er es für richtig erachtet (was er ja täglich tut, ob aktiv oder zulassend als Konsequenz unseres Falls sei nun einmal dahingestellt). Hier beginnt unser Zerwürfnis von Neuem, denn unser Verlangen nach einer gangbaren Antwort verhallt in der Unergründlichkeit seines Ratschlusses, seines Wirkens und Zulassens.
Hier ist man gezwungen, sich dahin zu wenden, wo Gott für uns fassbar geworden ist, in Jesus von Nazareth. Dasselbe Problem hat Luther dahingetrieben, auszusprechen: «Ich kenne keinen anderen Gott als den Menschen Jesus Christus» (das bedeutet im Übrigen nicht, dass man die Trinität auf Jesus Christus reduziert). Als Prolog des Christusereignisses lesen wir «So sehr hat Gott die Welt geliebt…» Das Engagement Gottes in dieser Welt wurzelt in seiner nicht erloschenen Liebe für die Welt der Menschen. In Jesus wird uns sogar einer vorgestellt, der mit tiefstem Herzeleid trauert über die Verzweiflung, die Menschen erfasst, welche mit dem Tod eines Angehörigen konfrontiert werden (vgl. Joh 11).
Das ist ein Hoffnungsschimmer, der an Leuchtkraft zunimmt, wenn wir den Schmerz im Angesicht des gekreuzigten und verlassenen Gottmenschen sehen, der aus freiem Liebeswillen dort hängt. Wir erahnend staunend seine Hingabe, mit welcher er dieses Jammertal der Verzweiflung, der Schuld und des Todes mit sich begraben möchte, um dann in seiner Auferstehung und seiner Wiederkunft, die Welt und uns alle mit sich emporzureissen in den neuen, ewigen Frühling. Es ist der Tag der grossen Gerechtigkeit, der alle ungehörten und ignorierten Schreie aller Geplagten, Gemarterten und Vernichteten ans Licht bringen will. Der grosse Tag der Rechenschaftsforderung und der grosse Tag der göttlichen Gnade.
Es mag sein, dass dieser Horizont im Augenblick des Schmerzens in ferne Auen entschwindet, es ist jedoch der einzige und mächtigste Trost, der uns bleibt. Materialismus, Naturalismus und Atheismus sind zu keinem Trost fähig, weil die Absolutheit des Todes die letzte Norm ist. Auch wenn mich die christliche Auferstehungshoffnung im Moment des unaussprechlichen Verlustes und der Angst nicht sogleich tröstet und wiederherstellt, es kommt der Tag, an dem die Tränen ausgeweint sind und man sich folgender Frage stellen muss: Was nun? Lasse ich zu, dass meine Existenz zersetzt wird in der Säure der Verzweiflung oder werfe ich mich in die Arme Gottes, den ich im Angesicht des Gekreuzigten erkenne, den ich nicht erfassen kann, dessen Ratschluss mich bisweilen ratlos zurücklässt, aber der mich dazu einlädt ihm zu vertrauen, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz?
Bis der Frühling ganz über uns hereinbricht, gilt das Wort: «Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden», tragt die Zerschundenen, heilt die Zerbrochenen, fördert die Kleinmütigen, stärkt die Taumelnden und umgebt euch mit den Ausgeschlossenen. Überall gilt es das Wort vom Kreuz zu erzählen. Das Kreuz Jesu ist der Ort, an welchem sich das menschliche Elend geschichtlich kumuliert und wo es durch Tod und Auferstehung überwunden wird. In der Betrachtung des gekreuzigten Gottes sehen wir, wie Gott sich zum unaussprechlichen Elend des Menschen stellt, mitleidend, erneuernd und überwindend. Im auferstandenen Jesus vernehmen wir dann sogleich den herrlichen Duft des fernen Ufers, das, vom göttlichen Ruf gezogen, näher und näher kommt während das klägliche Holzbötchen unseres Lebens von mancherlei Stürmen umhergetrieben und zermartert wird. Wenn wir unseren Blick auf das von den scharfen Klippen abgeschabte Holz des Bugs richten, bemerken wir ungläubig, dass sich auf den zersplitterten Strukturen des Holzes das Angesicht des Gekreuzigten abzubilden beginnt.
Er wird vollenden, was Er angefangen hat.
Sehr erbaulich. Danke.